Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, beklagte, dass in Deutschland die Erinnerung an den Holocaust zur Disposition stehe. Seiner Meinung nach dürfe dies nicht geschehen, weil die Verbrechen der Nationalsozialisten gegenüber dem jüdischen Volk nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Inzwischen gibt es kaum noch Überlebende, die Zeugnis über die Verbrechen ablegen können.
Allerdings gibt es auch Meinungen – und wahrscheinlich nicht nur in der deutschen Bevölkerung – dass jedes Volk einmal einen gewissen historischen Abschluss zu Teilen seiner eigenen Vergangenheit ziehen muss. Im Grunde genommen stellt sich die Frage, ob es zulässig sein kann, dass den kommenden Generationen nie die Chance gegeben werden darf, ohne einen ständigen Schuldvorwurf für Verbrechen, die Generationen vor ihnen einmal begangen haben, die eigene Zukunft selbst unbelastet gestalten zu können. Zurzeit kann davon in keiner Weise gesprochen werden, da die Bürger in Deutschland täglich, insbesondere im Rundfunk, auf die Verbrechen der Nationalsozialisten hingewiesen werden. Diese Tatsache soll an dieser Stelle lediglich sachlich festgestellt werden, ohne dazu eine persönliche Stellungnahme zu beziehen. Es ist schon ausgesprochen problematisch, wenn die Frage des Umgangs mit der Bewältigung der Vergangenheit in Deutschland thematisiert wird. Sehr schnell werden diejenigen, die sich trauen, dieses Thema anzusprechen, sofort in eine rechte Ecke gestellt, so dass damit eine intellektuelle Auseinandersetzung gar nicht mehr erfolgen kann. Der Verfasser dieser Zeilen hat sich selbst die Frage gestellt, ob er dieses Thema überhaupt an dieser Stelle aufgreift und damit öffentlich zur Diskussion stellt und seine eigene Frage damit beantwortet, dass es wichtig ist, dass endlich offen auch über eine adäquate Aufarbeitung der eigenen Geschichte diskutiert werden kann. Eine solche offene Diskussion, die zwingend notwendig ist, darf nicht mit Totschlagargumenten verhindert werden, weil dies eine negative Verdrängung wäre, die eines Tages wieder unkontrolliert zum Ausbruch kommen kann.
Wenn der Bundespräsident Steinmeier erklärt, es müssen neue Formen des Gedenkens gefunden werden, dann kann auch erwidert werden, dass es bereits genügend Formen des Gedenkens gibt und dass die Form des Gedenkens nicht von Politikern bestimmt werden soll, sondern aus dem Empfinden eines Volkes selbst entwickelt werden muss. Wenn Politiker meinen, den Bürgern bestimmte Formen des Gedenkens “vorzuschlagen”, dann verfolgen sie selbst damit eigene politische Ziele, die mit dem jeweiligen Grund des Gedenkens nur noch wenig zu tun haben. Oft kommen solche Bemühungen bei den Bürgern auch nur als unangemessene Belehrungen an, wobei die Politiker oft wie Oberlehrer auftreten, die ihren “Schülern”, sprich Bürgern, den richtigen Weg meinen, zeigen zu müssen.
Aber es gibt einen weiteren Grund, warum die Frage eines ewigen Schuldvorwurfs bei einer Gesellschaft auch zu negativen Entwicklungen führen kann. Der Politikwissenschaftlicher Prof. Dr. Eckard Jesse stellt fest: “Findet die selbstquälerische Form der Vergangenheitsbewältigung kein Ende, so bedeutet das eine nachhaltige Hypothek für die politische Kultur in der Bundesrepublik – unter Umständen mit Konsequenzen, die nicht im Interesse der Bewältigter liegen dürfte”. Diese These deckt sich auch mit den Erkenntnissen der Pädagogik. Wenn man Kindern ständig ihre Fehler vorhält, dann erreicht man keinesfalls eine Verbesserung der Situation. Manche Kinder reagieren mit Aggressionen, andere reagieren depressiv. Beides führt zu keinem guten pädagogischen Ergebnis. Im übertragenen Sinne verhält es sich bei einer Gemeinschaft eines Volkes nicht anders, da immer die gleichen Gesetzmäßigkeiten der Natur bestehen.
Es gibt einen weiteren Punkt, der in Deutschland dazu führt, dass noch immer kein vernünftiger Umgang mit der Vergangenheit erfolgen konnte. Bisher gibt es für das deutsche Volk keinen wirklichen Abschluss des Krieges, der nun bereits seit 77 Jahren beendet wurde. Ein offizieller Friedensvertrag existiert nicht. Eine neue Verfassung, die vom Grundgesetz gefordert wurde, gibt es nicht. Der sogenannte 4 plus 2 Vertrag, der als Friedensvertrag angesehen werden soll, ist ein Vertrag der vier ehemaligen Alliierten, dem die damalige DDR und die Bundesrepublik beigetreten ist – ich möchte nicht sagen wurde.
Die Amerikaner sind nach wie vor militärisch in Deutschland präsent, wobei dies von diesen nicht als Besatzung angesehen wird. Es gibt auch noch immer Geheimverträge, die Eingriffe in die Souveränität Deutschlands durch die Amerikaner zulassen und den Bürgern Deutschlands nicht offen kommuniziert wurden.
Dass es noch immer keinen Abschluss der Kriegsfolgen für Deutschland zu geben scheint, wird jetzt deutlich durch die erneuten Reparationsforderungen Polens an Deutschland. Mit diesen Forderungen würden erneut grundsätzliche Fragen der durch Polen übernommenen ehemaligen deutschen Gebiete aufgebrochen, die eigentlich durch den 4 plus 2 Vertrag endgültig abgeschlossen sein sollten.
Es wäre für die Befriedung nicht nur in Deutschland sehr wichtig, wenn jetzt nach 77 Jahren des Kriegsendes die jetzt lebenden Bürger nicht weiter in ein ständiges Schuldbewusstsein gedrängt werden. Es geht darum, die Geschichte nicht zu vergessen, aber sie auch nicht so zu bewerten, als wenn sich eine geschichtliche Entwicklung nicht auch verändert und neue Fragen entstehen und zu lösen sind. Das bedeutet nicht, dass auch das Erinnern notwendig ist, es darf aber nicht dazu führen, dass die Gegenwart außer Kraft gesetzt wird.