Der Titel der am Donnerstag von der Umweltschutzorganisation Greenpeace veröffentlichten Studie zur Straßenbauplanung der Bundesregierung und ihren Kosten ist treffend gewählt: „Schotterpisten“. Die Errichtung von Auto- und Bundesstraßen, von Brücken und Tunneln erfordert jede Menge Steine und Sand. Vor allem braucht es fürs Baggern, Asphaltieren und Planieren aber Asche, also Geld, sehr viel Geld und irgendwie immer mehr davon. Nach dem vorgelegten Zahlenwerk könnte allein die Realisierung der im Bundesverkehrswegeplan (BVWP) mit höchster Priorität klassifizierten Straßenprojekte bis zum Jahr 2035 rund 100 Milliarden Euro höhere Ausgaben verursachen als ursprünglich vorgesehen. Das wäre mal eben ein ganzes „Sondervermögen“, wie es die Ampel für die Ertüchtigung der Bundeswehr auf den Weg gebracht hat, mit dem Unterschied, dass das Ganze keine „Besonderheit“ ist, sondern der ganz normale Wahnsinn einer Verkehrspolitik von vorvorgestern.
Was die Sache noch irrer macht: Ehe nur ein Kran in Stellung gebracht und nur eine Schaufel Erde ausgehoben ist, vermehren sich die Kosten der fraglichen Unternehmungen mit rasendem Tempo. Obwohl die meisten bisher nur auf dem Papier stehen, werden sie mit jedem Jahr teurer, im Schnitt um 10,6 Prozent, wie Greenpeace ermittelt hat. Auf längere Sicht heißt das: „Ein BVWP-Fernstraßenprojekt verdoppelt seinen Preis mithin üblicherweise innerhalb von neuneinhalb Jahren.“ Das läppert sich natürlich mit der Fülle der Maßnahmen. So waren die untersuchten 800 Projekte, die als „fest disponiert” und “vordringlich” eingestuft sind, bei der Verabschiedung des BVWP im Jahr 2016 noch mit knapp 51 Milliarden Euro veranschlagt. Sieben Jahre später hat sich der Ansatz mal eben verdreifacht, auf 153 Milliarden Euro. Dabei wäre das längst nicht das Ende der Fahnenstange. Der Bundesverkehrswegeplan beinhaltet Hunderte mehr Projekte des „weiteren Bedarfs“, die nicht in die Berechnung eingegangen sind. Insgesamt geht es um 1.360 Vorhaben, die bei Beschlussfassung mit 270 Milliarden Euro beziffert waren. Was, wenn der ganze Haufen bis zur Umsetzung in zwölf Jahren dreimal mehr Geld verschlingt? Das wären dann über 800 Milliarden Euro. Vielleicht würde ja sogar die Billion geknackt, für etwas, das schon heute komplett aus der Zeit gefallen ist.
Preis verneunfacht
Aber wie kommt Greenpeace auf diese riesigen Hausnummern? Grundlage der Kalkulation ist die Antwort des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) von Anfang März auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke. Hierbei wurde die veränderte Kostenentwicklung bei 351 Projekten behandelt und die Ergebnisse hat der Verband auf die verbleibenden 450 Maßnahmen hochgerechnet. Dabei sei ein „eindeutiger Trend“ erkennbar geworden: Bei 13 gingen die Preisansätze zurück, bei 13 blieben sie konstant. In 325 Fällen ergab sich dagegen eine Verteuerung, „zum Teil um mehrere hundert Prozent“.
Dazu drei Beispiele: Der sechsstreifige Ausbau der Autobahn 59 bei Duisburg stand mit 333 Millionen Euro im BVWP zu Buche. Zum Stichtag 11. Februar 2022 hatten sich die Kosten dann auf über 1,4 Milliarden Euro vervierfacht. Dabei gibt es bisher nicht einmal eine Baustelle. Dagegen ist die rund 1,8 Kilometer lange Ortsumgehung bei Imsweiler in Rheinland-Pfalz immerhin im Bau, seit fünf Jahren. 2019 wurden die Kosten bis Fertigstellung mit 66 Millionen Euro angegeben, wenige Jahre davor noch mit etwas mehr als 22 Millionen Euro. Ob es sich mit der Verdreifachung des Preises bis Bauende erledigt hat, ist nach Medienberichten „unklar“. Dann ist da die sechsspurige Erweiterung der A 81 zwischen dem Autobahnkreuz Stuttgart und Sindelfingen-Ost. Innerhalb von sieben Jahren haben sich die Kosten von 12,4 Millionen Euro auf 111,3 Millionen verneunfacht, wobei die letzte Taxierung mehr als zwei Jahre zurückliegt.
Systematische Kleinrechnung
Gründe für die groben Fehleinschätzungen sind laut Auswertung allgemeine Kostensteigerungen beim Bau bis hin zur „systematischen Kleinrechnung“. In einem Bericht an den Haushaltsausschuss des Bundestages hat das BMDV selbst eine Steigerung der Baukosten zwischen 2016 und 2021 um 24,7 Prozent festgestellt. Die Folgen der Rekordinflation im laufenden und zurückliegenden Jahr sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Mindestens mitverantwortlich ist das Ministerium bei dem, was auch die Rechnungshöfe in Bund und Ländern wiederholt beanstandet haben. Der Bundesrechnungshof (BRH) hatte schon 2016 moniert, die Festsetzung der Projektkosten wäre nicht nachvollziehbar, teilweise nicht plausibel und beruhe auf Schätzungen, die eher zu niedrig angesetzt seien. Trotzdem wurden die Pläne praktisch ausnahmslos durchgewunken.
Das alles hat System, wie auch Greenpeace bestätigt. „Je geringer die angeblichen Kosten, desto besser das Nutzen-Kosten-Verhältnis (NKV).“ Diese Größe entscheide bei der Aufstellung des BVWP maßgeblich darüber, „welcher Prioritätsstufe die Projekte zugeordnet werden – und damit über die Wahrscheinlichkeit, dass sie überhaupt umgesetzt werden“. Je niedriger die Kalkulation, desto eher wird ein Projekt realisiert, bemerkte auch Greenpeace-Verkehrsexpertin Lena Donat in einer Medienmitteilung. „Die tatsächlichen Kosten werden erst im weiteren Verlauf offensichtlich.“ Dazu kommt ein weiterer Faktor. Bei stetig wachsendem Abstand zwischen geplanten und schlussendlich fälligen Kosten ergeben sich auch größere Spielräume zur Bereicherung von Beteiligten: Planer, Baufirmen, Lieferanten, Mitarbeiter in Behörden bis hin zu politischen Entscheidern. Wo in großem Stil Staatsgeld verpulvert wird, wird auch gerne die Korruption heimisch.
Bahn auf Abstellgleis
„Ohne politische Steuerung perpetuiert sich der Straßenbau immer weiter“, äußerte sich Carl Waßmuth vom Bündnis „Bahn für alle“ am Freitag gegenüber den NachDenkSeiten. Die Hälfte der Autobahnbrücken sei 50 Jahre alt, jetzt wolle die Ampelregierung sie für weitere 50 Jahre neu herrichten. Die Autobahnen erhalte man sorgfältig und baue das Netz immer weiter aus. Aber bei der Bahn habe man Tausende Kilometer Schiene stillgelegt. „Das ist völlig absurd, denn nur die Bahn ist imstande, uns vor dem Klimakollaps zu retten“, bekräftigte Waßmuth. Tatsächlich will Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) an seinen in jeder Beziehung überdimensionierten Ausbauplänen festhalten. Für die aktuell in Ausarbeitung befindliche Verkehrsprognose 2040 werden die Vorgaben des BVWP praktisch eins zu eins übernommen. Bei Umsetzung wären das zusätzliche 3.300 Autobahn- und Bundesfernstraßenkilometer, wofür der Bund seine Investitionsmittel vervierfachen und ab 2023 jedes Jahr über zehn Milliarden Euro ausgeben müsse, bemängelt Greenpeace.
„Volker Wissing hat ein CO₂- und ein Finanzproblem. Noch mehr Autobahnen zu bauen, verschlimmert beides. Die Antwort kann nur sein, den Bundesverkehrswegeplan grundlegend zu ändern“, bekräftigte Donat. Ihr Verband fordert, den Aus- und Neubau von Autobahnen und Bundesstraßen umgehend zu stoppen. Das BMDV dürfe sich nicht weiter an eine immer teurer werdende „Wünsch-dir-was-Liste aus der Zeit gefallener Straßenprojekte klammern“. Statt dessen müssten die Mittel in den Ausbau der Schiene fließen und die Planung von Verkehrsinfrastruktur grundlegend überarbeitet und an den Klimazielen ausgerichtet werden.
150.000 gegen Wissing
Immerhin sorgt der Starrsinn Wissings für Unmut in der Koalition. Am kommenden Sonntag soll der anhaltende Streit zwischen FDP und Grünen über den Autobahnausbau in einem Koalitionsausschuss beigelegt werden. Man darf gespannt sein, wer hier wie viel seiner Stellung wird preisgeben müssen und welcher (faule) Kompromiss dabei herausspringt. Zumal man auf den Durchsetzungswillen der Grünen-Partei nicht allzu viel geben sollte. Deren Ministerriege, angeführt von Robert Habeck und Annalena Baerbock, legt im Zeichen des Ukraine-Kriegs schließlich selbst gerade einen fulminanten klimapolitischen Rollback hin, Stichworte: Kohlecomeback, Fracking- und Flüssiggasförderung.
Am Ende hängt es von den Bürgern im Land selbst ab, wohin die klimapolitische Reise der BRD geht, ob sie weiter mit viel Gestank und Stau über die Straße führt oder mit Tempo und Komfort über die Schiene. Für Letzteres bedarf es freilich eines neuen Steuermanns. Gerade einmal drei Tage ist eine Petition von Fridays for Future (FFF) bei Campact.de mit einer Rücktrittsaufforderung an Verkehrsminister Wissing auf Sendung und schon mehr als 150.000 Menschen haben sich dem Aufruf angeschlossen. Die bisherige Leistungsbilanz des FDP-Politikers: kein Tempolimit, Bremsen beim Verbrennerausstieg, steigende Emissionen in seinem Ressort, ein aufs Jahr 2070 verschobener „Deutschland-Takt“ bei der Bahn. Solange er im Amt bleibe, „wird es keine Verkehrswende geben, die diesen Namen verdient“, beklagen die Klimaschutzaktivisten. Deshalb, „Herr Kanzler Scholz, greifen Sie ein und lassen Sie jemanden diesen Job machen, der weiß, wovon er spricht, was seine Aufgaben sind, und bereit ist, tatsächlich loszulegen“. Gut so, aber: Wer soll das sein?