Der Jurist Dr. Christian Schnoor hat in einem Gastbeitrag einige wesentliche Gedanken formuliert, die vielleicht ein anderes und objektiveres Bild zur Kausa Brosius-Gersdorf vermitteln.
Bornemann-Aktuell hält diesen Beitrag für wichtig, so dass wir uns entschieden haben – entgegen unserer allgemeinen Praxis – diesen Beitrag auf unserer Seite einzustellen.
Wissenschaftliche Übeerlegungen zur Kausa Brosius-Gersdorf
ein Gastbeitrag von Dr. Christian Schnoor
Bei Frau Prof Brosius-Gersdorf ist nicht überall Wissenschaft drin, wo „Wissenschaft“
draufsteht. Jedenfalls nicht diejenige Qualität an Wissenschaft, die mit einigem Anspruch aufzutreten berechtigt wäre.
Das gilt zumindest für eine Begründung, die die Autorin für ihre These vorgebracht hat, die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes gelte nur ab der Geburt. Diese Argumentation wird, offenbar als Spitzensatz, aus einem wissenschaftlichen Aufsatz (Festschrift für ihren Doktorvater Horst Dreier, 2024) vielfach zitiert. Allein in der FAZ dankenswerterweise von Stephan Klenner schon am 9. Juli und dann noch einmal am 23. Juli, sowie am 18. Juli von
Elisabeth Winkelmeier-Becker als „Fremder Feder“.
Der Satz ist Teil verfassungsrechtlicher Erörterungen und lautet: „Die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch- naturalistischer Fehlschluß“. Gemeint ist offenbar: Die Auffassung, daß die im Grundgesetz
zugesprochene Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, daß m.a.W.
alles menschliche Leben an der Menschenwürde teilhat, beruhe auf einem (dem sog. naturalistischen) Fehlschluß. Dabei ist wohl zusätzlich mitgemeint (sonst ist der Satz nämlich nicht so wichtig, nicht durchschlagend für die These), die Auffassung lasse sich auch nicht auf
einem anderen Wege hinreichend begründen, d.h. sie beruhe vollständig auf dem genannten Fehlschluß, sie ermangele also der notwendigen Begründung, ja sogar
Begründbarkeit. Und dieser Befund sei verfassungsrechtlich maßgebend oder jedenfalls
bedeutungsvoll. Der Satz ist schon ganz für sich genommen so gehaltvoll, daß es sinnvoll ist, ihn ohne
eingehendere Betrachtung seines Kontexts genauer zu prüfen. Dann ergibt sich, daß er in zweierlei, ja vermutlich in dreierlei Hinsicht fehlerbehaftet ist:
Der erste Fehler: Die Autorin beruft sich in dem Satz auf eine lange Zeit gängig gewesene Doktrin der normlogischen Erkenntnistheorie , die stark vereinfacht besagte, aus deskriptiven Aussagen (über Tatsachen) könne man keine Wertungen oder andere
normative Aussagen ableiten. Das bedeutet: Beweisen will die Autorin, daß nicht allem menschlichen Leben Menschenwürde gemäß Artikel 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz zukommt. Dazu beruft Frau Prof. Brosius-Gersdorf sich auf eine Regel, die, wenn sie denn, wie im
untersuchten Satz vorausgesetzt (mit Maßgeblichkeit auch für das Verfassungsrecht) anwendbar wäre (was aus zwei Gründen nicht der Fall ist, dazu im folgenden) mit dem ihr von der Autorin zugesprochenen Grad an Maßgeblichkeit für das Verfassungsrecht jegliche
Zuerkennung von Menschenwürde, die an das Vorhandensein eines menschlichen Lebens
anknüpft, ausschlösse. Die Anwendbarkeit dieser Doktrin bzw. der in dieser behaupteten Regel schlösse es vollständig aus, jemandem wegen der Tatsache, daß er Mensch ist, begründeterweise, wissenschaftlich zulässigerweise Menschenwürde (nach dem
Grundgesetz) zuzusprechen. Auch mit Wirkung auf die verfassungsrechtliche Rechtsfindung.
Daraus folgt: Die Autorin stützt sich auf eine Argumentation, die nur richtig sein kann, wenn
Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz – in Gänze! – falsch ist.
Allerdings möchte die Autorin die von ihr als für die verfassungsrechtliche Rechtsfindung
gültige und anwendbare Erkenntnisgewinnungsregel ins Feld geführte Doktrin demgegenüber, gewissermaßen unter der Hand, entgegen dem absolut üblichen und gut
eingeführten Inhalt dieser Regel, lediglich auf Teile oder einen Teilbereich menschlichen Lebens – im Satz zunächst nicht genannten, aber im Kontext offensichtlichen – anwenden. In diesem Bereich soll die Menschwürde nicht aus dem Menschsein folgen. In anderen Bereichen menschlicher Existenz offenbar schon. Warum insoweit die von der Autorin in
Anspruch genommene Erkenntnisregel einer verfassungsrechtlich maßgeblichen Ableitung
der Menschenwürde aus dem Menschsein nicht entgegensteht, wäre unter Beachtung der
von der Autorin im hier in Rede stehenden Satz herangezogenen erkenntnistheoretischen
Doktrin aus wohl schwerlich, oder deutlicher gesagt: unmöglich, zu begründen.
Der zweite Fehler: Es gibt seit über 40 Jahre bekannte und, soweit für den Nichtspezialisten
erkennbar, zumindest sehr starke Gründe dafür, dass das sog. „Argument vom naturalistischen Fehlschluss“, und zwar über eine Variationsbreite von vier verschiedenen
Bedeutungen, die ihm des genaueren zugeschrieben werden können, wissenschaftlich nicht stichhaltig ist. Die Berufung auf die angebliche Unzulässigkeit eines „naturalistischen Fehlschlusses“ ist also eher plakativ wirkungsvoll als wissenschaftlich fundiert.
Aber auf diese wirklich hochkomplizierte Frage der Normlogik kommt es, und das ist
der dritte Fehler, für die zu beantwortende Frage, also die Frage, ob Menschenwürde nach dem Grundgesetz‚ überall gilt, wo menschliches Leben existiert, gar nicht an. Für die verfassungsrechtliche Rechtsanwendung stellt sich die Frage, inwieweit sie sich auf angebliche „naturalistische Fehlschlüsse“ stützt, nämlich nicht. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG, wonach die Würde des Menschen unangetastet bleiben soll, ist ein Rechtssatz. In
Rechtssätzen wird für den Fall des Vorliegens bestimmter tatsächlicher Voraussetzungen (sog. Tatbestand) die Anordnung eines Verhaltens (Gebot, Verbot oder andere Art von sog. Rechtsfolge) ausgesprochen. Diese Anordnung beruht jedoch keineswegs auf einer logisch-
wissenschaftlichen Herleitung der Rechtsfolge aus dem Tatbestand, an die in welchem Sinne
auch immer wissenschaftliche Anforderungen logisch-erkenntnistheoretischer Stringenz zu
stellen wären. Vielmehr wird die Rechtsfolge an den Tatbestand in einer mehr oder weniger – auf jeden Fall
wissenschaftlich (normlogisch-erkenntnistheoretisch) gesehen höchst unzulänglich – rationalen Weise geknüpft. Sei es im demokratischen Rechtssetzungs-Verfahren, sei es in der richterlichen Rechtsfortbildung (vom reinen Richterrecht ganz zu schweigen!). Dies geschieht
auf der Grundlage kollektiver moralischer Überzeugungen, moralischer Intuition, historischer
Unrechtserfahrungen. Ohne ein hohes Maß an dem gesunden Menschenverstand sich erschließender Rationalität bzw. Plausibilität wird Recht keine Akzeptanz finden, weder in der Normsetzung selbst noch danach!! Es wird gerade nicht nach Regeln, die irgendwie den
Ansprüchen der normlogischen Erkenntnistheorie genügen könnten oder müßten, vom Tatbestand auf die Richtigkeit der Rechtsfolge ‚geschlossen‘.
Entsprechend ergehen übrigens die Gerichtsurteile nicht unter Berufung auf wissenschaftliche Erkenntnis, sondern, auch beim Bundesverfassungsgericht, “Im Namen des Volkes“.