In einem interessanten Essay „Der Haftbefehl, der Angriffskrieg und das Völkerrecht“ von Horst Meier, wurden im Zusammenhang mit dem sogenannten Haftbefehl des Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen den Staatspräsidenten Putin, die Hintergründe, die eine solche – aus Sicht vieler Bürger sehr zweifelhaften Maßnahme – überhaupt ermöglichte, erläutert und dargestellt. Die Grundfrage lautet, ob es überhaupt eine Rechtsgrundlage für einen solchen Haftbefehl gibt und inwieweit die Umsetzung möglich ist. Besonders pikant ist dabei die Tatsache, dass weder Russland noch die Ukraine den Gerichtshof anerkannt haben. Das wäre aber die rechtliche Grundlage gegen Russland vorzugehen.
Die Straftaten, die Wladimir Putin und seiner Beauftragten für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa aktuell vorgeworfen werden, beziehen sich auf vermeintliche Kriegsverbrechen, für die Putin persönlich verantwortlich sein soll und wegen einer behaupteten Deportation zahlreicher ukrainischer Kinder. Angeblich sollen 20.000 Kinder von den Russen aus der Ukraine nach Russland deportiert worden sein. Genaue Zahlen gibt es offensichtlich nicht. Russland weist diesen Vorwurf zurück und stellt fest, dass hier Kinder aus dem Kriegsgebiet geschützt worden seien.
Der Westen rühmt sich mit diesem Vorgehen, einen Meilenstein in der Geschichte gesetzt zu haben. Allerdings bestehen auch erhebliche Zweifel, inwieweit der Internationale Gerichtshof überhaupt zuständig ist und welchen substanziellen Bestand die Anklage gegen Putin und Maria Lwowa-Belowa überhaupt haben. In dem Essay werden sehr detailliert die juristischen Grundlagen angesprochen, die nach Auffassung zumindest der westlichen Länder im vorliegenden Fall gegeben sein sollen.
Was jedoch immer wieder bei diesen Diskussionen außer Acht bleibt, ist die Tatsache, dass eine juristische Meinung eine Sache ist, die politischen Auswirkungen von juristischen Überlegungen aber wesentlich bedeutungsvoller sind, weil sie oft auch mit Reaktionen verbunden sind, die wiederum zu neuen Gewaltausbrüchen führen können. Man stelle sich einmal vor, was geschehen würde, wenn der Staatspräsident der Welt- und Atommacht Russland auf einer seiner Auslandsreisen tatsächlich verhaftet würde. Glauben Politiker wie Frau Baerbock wirklich, dass eine solche Maßnahme von Russland lediglich mit einer diplomatischen Note beantwortet werden würde? Könnte eine solche Maßnahme nicht auch von Russland als eine Kriegserklärung angesehen werden, die unverzügliche militärische Reaktionen zur Folge hätte und die dann sogar völkerrechtlich gedeckt wäre.
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt, der bei allen Diskussionen, so auch bei diesem Essay schamhaft verschwiegen wird. Unterstellt, Putin wäre ein Kriegsverbrecher im Sinne des Völkerrechts, so wie es die westliche sogenannte Wertegemeinschaft interpretiert, dann stellt sich doch die Frage, ob Putin jetzt der erste Kriegsverbrecher in Gestalt eines aktiv tätigen Staatsmannes, der von seinem Volk für dieses Amt gewählt und autorisiert wurde, ist oder ob es nicht eine Reihe von anderen Staatsmännern, einschließlich amerikanischer Präsidenten wie Bush sen. und Bush jun. sowie der Friedensnobelpreisträger Obama gibt, denen man ebenfalls Kriegsverbrechen vorwerfen muss. Dabei sind einige dieser Verbrechen gar nicht mehr erst zu ermitteln, weil sie so offenkundig waren und auch noch sind, so dass hier viele Haftbefehle auszusprechen wären.
Aktuell zeigt sich wieder einmal, dass Recht immer derjenige hat, der im Besitz der Macht ist und selbst definiert, was er als Recht ansieht. In der Regel hat dann immer der politische Gegner Unrecht und dessen Taten sind Kriegsverbrechen, während die Taten der Machtinhaber als Operationen zur Herstellung der Demokratie und der Menschenrechte bezeichnet werden, bei denen die Zahl der Toten auch keine Rolle spielt.
Wenn sich der ukrainische Präsident von Vertretern des Internationalen Gerichtshof in Den Haag empfangen lässt und großspurig von der Verteidigung der Freiheit in der Welt spricht, dann können manchen Bürgern Zweifel kommen, ob hier nicht eine verkehrte Welt der Öffentlichkeit dargeboten wird. Auch Selenskyj sollte sich fragen, ob seine eigenen Maßnahmen immer völkerrechtlichen Maßstäben genügen oder ob auch ihm Kriegsverbrechen angelastet werden müssen. Auch der Zwang gegenüber den Bürgern, dass diese kämpfen müssen, ohne eine Chance des Überlebens haben, ist ein Verbrechen.
Eine der wichtigsten Fragestellungen wird in keiner Weise angesprochen. Wenn man den Regierungschef einer Weltmacht mit einem Haftbefehl belegt, ist erstens offen, mit wem überhaupt über eine mögliche Beendigung einer kriegerischen Auseinandersetzung verhandelt werden soll und zweitens, ob nicht dadurch Russland genötigt ist, weiter Krieg zu führen, bis alle wehrtüchtigen Personen tot sind und sich der Krieg somit dann auch erledigt. Man könnte den Eindruck haben, als wenn die USA glaubten, die russische Bevölkerung gegen ihren Staatschef so aufzubringen, dass dieser vom eigenen Volk gestürzt worden wäre und die USA einen Regierungswechsel – wie sie dies immer wieder mehr oder weniger erfolgreich versucht – in Russland hätte betreiben können. Wahrscheinlich sollte Selenskyj hier die Vorbereitungen für eine solche Aktion einleiten, wobei diese wohl als gescheitert angesehen werden kann.
Aktuell wäre es notwendig, dass alle Seiten abrüsten und erkennen, dass mit Waffen kein Frieden zu erreichen ist. Die Amerikaner sollten erkennen, dass sie wieder einmal den Stolz einer Nation und ihrer Bürger falsch eingeschätzt haben und sich nicht darauf verlassen können, dass ihr CIA die Sache schon auf die Reihe bringt. Die Konsequenz wäre, dass man die Kinderei, wie sie der Haftbefehl gegen Putin darstellt, beendet und sich die US-Regierung auf Augenhöhe mit Putin zusammensetzt, um eine endgültige Lösung des Konflikts zu bewirken. Wenn Frau Baerbock ihre Aufgabe als Außenministerin verstehen würde, hätte sie schon lange ein Konzept erarbeitet, unter welchen Umständen die Beendigung des gegenseitigen Mordens möglich sein könnte. Aber von dieser Frau ist außer einer schauspielerischen Aktion nichts zu erkennen. Man darf sicher sein, dass es genügend Fachleute und Experten im Außenministerium gibt, die aber unter der gegenwärtigen Ministerin wahrscheinlich zu schweigen haben. Hoffen wir auf einen politischen Wechsel in den USA und in Deutschland, dann wird mit großer Wahrscheinlichkeit wieder eine effektive Diplomatie einsetzen, die zu Ergebnissen kommt, die im Sinne und zum Wohl der Bürger sind und nicht einem Phantom von politischen Dilettanten nachjagen.