In der Sendung Essay und Diskurs im Deutschlandfunk kam der Soziologe Wolfgang Streeck und Direktor Emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln zu Wort. Anlaß des sehr aufschlussreichen und interessanten Gesprächs war, das von Streeck im Suhrkamp-Verlag erschiene Buch „Zwischen Globalismus und Demokratie – Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus.
Die Globalisierung galt als eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Gesellschaft, die fast als Heilslehre verkündet wurde. Den Bürgern wurde das Narrativ vermittelt, daß wir alle in einer großen Weltgemeinschaft leben und wir nicht mehr in den angeblichen Zwängen eines Systems von Nationalgesellschaften leben können.
Die Konzerne meinten, nur die Größe eines Unternehmens sei für den wirtschaftlichen Erfolg ein Garant, was zu gigantischen Firmenzusammenschlüssen im Industrie- im Bankenbereich und auch bei den Gewerkschaften führte. Die Folge war, daß Konzerne faktisch nicht mehr nationalen Gesetzen unterlagen, sondern sich eigene rechtsfreie Räume schafften, die unkontrollierbar waren und bis heute geblieben sind. Das Ergebnis dieser größenwahnsinnigen Entwicklung bekamen die Arbeitnehmer sehr bald zu spüren. Solide Unternehmen verschwanden, weil sie von multilateralen Finanzjongleuren aufgekauft und zerschlagen wurden. Natürlich verloren die Mitarbeiter dieser Unternehmen ihre Arbeit, aber wozu gibt es den Staat der nationalen Länder, die sich gefälligst um diese Verlierer im Rahmen der Sozialhilfe zu kümmern haben. Große Banken wurden fusioniert und verschwanden, weil die Fusion zur Pleite führte. Die einst renommierte Deutsche Bank wurde im Taumel des Größenwahns eines Ackermanns zu einer Firma die mehr bei Gerichten angeklagt wurde, als daß sie noch als seriöser Geschäftspartner gelten konnte. Die einst starken Einzelgewerkschaften in Deutschland, die glaubten, ihr Heil ebenfalls nur noch in der Größe zu finden, wunderten sich plötzlich, daß sie für ihre Mitglieder immer uninteressanter wurden, so daß ein massiver Mitgliederschwund eintrat. Eine Großgewerkschaft wie Verdi, die ihren Mitgliedern erzählen wollte, sie könne die Interessen aller Arbeitnehmer gleichzeitig vertreten, führte eindrucksvoll vor, wie man unterschiedliche Interessen von Mitgliedern kaum zusammenfassen kann. Die Interessen der Piloten sind eben anders gelagert als die Interessen der Putzfrauen und Verwaltungsangestellten der gleichen Fluglinie, die jetzt aber nur noch von einer Gewerkschaft vertreten wurden. Ergebnis: Die Berufsgruppen, die die Möglichkeit und die Macht hatten, bildeten ihre eigenen Gewerkschaften, die erfolgreich waren. Der Rest konnte dann bei Verdi sehen, wo er blieb.
Auch die Kirchen meinten ihre Zukunft sei nur noch in großen Zusammenschlüssen gesicherte. Das Ergebnis, das jeder zurzeit eindrucksvoll beobachten kann, ist daß sich die Mitlieder der Kirchen von diesen abwenden, weil für sie nicht mehr erkennbar ist, welchen Sinn ein Verbleiben in einem solchen Großgebilde haben soll.
Ein besonderes Phänomen dieser krebsartigen Gesellschaftsdeformation ist, daß überwiegend nur wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund der Diskussion standen. Größe sei wichtig, um am Markt zu bestehen. Märkte, die sich nur auf einen nationalen Bereich beschränken seien zu klein und hätten keine Zukunft. Was bei der gesamten Diskussion völlig untergangen ist und allenfalls nur sehr kursorisch behandelt wurde, ist der Verlust der Demokratie. Die eigentlichen politischen Entscheidungen werden nicht mehr von den nationalen Regierungen getroffen. Sie werden auch nicht von einer englischsprechenden deutschen Kommissionspräsidentin wesentlich bestimmt. Mit zunehmender Machfülle der international tätigen Großkonzerne, von denen sich die wenigsten noch in Deutschland befinden, treffen diese Konzerne an allen Politkern vorbei Entscheidungen, die alle Bürger betreffen. Die Politiker sind offensichtlich nur noch die Kasperfiguren, die den Bürgern den Eindruck vermitteln müssen, daß die Bürger noch einen Einfluß – wenn auch nur bei den Wahlen – auf das politische Geschehen hätten. Wenn man Großkonzerne sagt, dann ist dies genauso unverbindlich wie „die Märkte“, die den Bürgern immer als die Entscheidungsträger genannt werden. Es wäre richtiger die wenigen Personen, die über riesige Kapitalansammlungen die Finanzströme beeinflussen und dabei in erster Linie ihr eigenes Wohl im Auge haben, zu identifizieren und namentlich zu nennen. Es sind eben Menschen, die im Hintergrund sehr vordergründig die Welt beherrschen und die Politiker nur benutzen, um nach außen alles demokratisch erscheinen zu lassen.
Streeck erläuterte in der vorgenannten Sendung des Deutschlandfunks sehr eindrucksvoll, wie die Bürger fernab jeglicher Einflussmöglichkeit sind, wenn die politischen Gebilde immer größer und unüberschaubarer werden. Wie können Bürger eine Politik, die in Brüssel von nicht gewählten Bürokraten erfolgt, beeinflussen, wenn sie zwar ihr eigenes Parlament wählen, dieses aber von Brüssel ausgehebelt wird, so daß es grundsätzlich keine wesentlichen Entscheidungen mehr treffen kann. Welchen Einfluss haben Bürger, wenn es eine Weltregierung gibt, die faktisch durch die Konzerne bereits existiert? Sie haben keinen Einfluß. Streeck brachte zum Ausdruck – und diese Auffassung ist nicht neu, sie wurde jetzt aber wieder in dieser Deutlichkeit in der Öffentlichkeit formuliert – daß die Zukunft bei den Nationalstaaten liegt. Bürger haben nur dann einen Einfluß auf die Politik, wenn sich diese in einem überschaubaren Rahmen bewegt und agiert. Auch Nationalstaaten können miteinander partnerschaftlich kooperieren. Der entscheidende Vorteil gegenüber einer größenwahnsinnigen Großmacht liegt jedoch darin, daß nur die einzelnen Nationen für sich entscheiden können, wo ihre eigenen Schwerpunkte der Politik liegen. Diese hängen von den unterschiedlichen historischen und gesellschaftspolitischen Erfahrungen und Einschätzungen ab und können nicht von außen oktroyiert werden. Die EU, die immer wieder mit Europa verwechselt wird, mit ihrer Einheitswährung, die mehr zerstört als zusammenfügt, ist der Sprengsatz in Europa.
Wohin Größenwahn und gleichzeitiges Desinteresse für das eigene Volk führt, hat die bisherige Bundeskanzlerin sehr gut gezeigt. Ihr Einsatz für das Große, wie sie es wahrscheinlich ausdrücken würde, hat dazu geführt, daß Deutschland mittlerweile das Schlußlicht bei den großen Wirtschaftsnationen ist. Die Gesellschaft ist gespalten, die Infrastruktur in Grund und Boden gerammt, das Bildungswesen zerstört, die Schulen marode.
Es war gut und auch überraschend, daß im Deutschlandfunk eine Stimme zu Wort kam, die deutlich darauf hinwies, daß die Bürger die wirkliche Lage, in der sich unser Land befindet, erkennen sollten, um möglichst schnell die politischen Weichen wieder anders zu stellen. Von den gegenwärtig agierenden Politkern wird ein Neubeginn in Deutschland nicht zu erwarten sein. Aber bei über 80 Millionen Einwohnern wird es auch Menschen geben, die in der Lage sind, wieder zu einer Neujustierung der Gesellschaft zu finden. Dann werden auch nicht mehr die vielen Nebelkerzen, wie 1,5 Grad und diverse Notwendigkeiten die gesellschaftliche Diskussion bestimmen, sondern eine intellektuelle Redlichkeit wird wieder zum Maßstab zukünftiger Politik werden.