Wenn es darum geht, Rußland gegenüber nachzuweisen, daß es für die Welt ein besonderes Sicherheitsrisiko ist und daß Putin die westliche Welt – ich möchte mir den Begriff „Wertegemeinschaft“ versagen, militärisch bedroht, scheinen sich immer wieder Ereignisse zu finden, die diese These bestätigen. Jedes Ereignis, gleichgültig, ob die Hintergründe aufgeklärt werden konnten, wird bereits unmittelbar nach dem Geschehen der russischen Regierung unterstellt. Dies führt dann dazu, daß – unter der Stabsführung der USA – unverzüglich wirtschaftliche Sanktionen verfügt werden, die – wenn es „der große Arm der USA“ so will – natürlich von allen Mitgliedern der westlichen Wertegemeinschaft umzusetzen sind. Dies muß natürlich aus innerer Überzeugung erfolgen. Wenn diese Überzeugung fehlt, dann werden die Sanktionen des hyperdemokratischen Staates USA gleich auch auf die Staaten ausgeweitet, die sich dem Willen der USA nicht unterordnen. So ganz nebenbei sollte an dieser Stelle gefragt werden, mit welcher rechtlichen, aber auch moralischen Grundlage, werden überhaupt Sanktionen gegen andere Staaten von den USA veranlaßt? Warum unterwerfen sich angeblich souveräne Staaten dem Diktat der USA?
Es hat den Anschein, als wenn die sogenannte westliche Wertegemeinschaft mit allen Mitteln daran arbeitet, in Rußland von außen das Klima so zu verändern, daß die dortige Bevölkerung die für den Westen mißliebige Regierung in Rußland stürzt. Hier schließt sich der Kreis zum Jahr 1917. Die Neue Züricher Zeitung titelte in ihrer Online-Ausgabe vom 28.1.2021 „Nawalnys Heimkehr – eine Operation des deutschen Geheimdienstes á la <<Lenin 1917>>? Die Parallelen sind durchaus erkennbar. Die Behauptungen Nawalnys, Putin habe sich einen riesigen Palast privat angeeignet, wird 1 : 1 übernommen, ohne selbst diese Angelegenheit überprüft zu haben. Wer hat eigentlich den Videofilm, der von Nawalny in das Internet gestellt wurde, hergestellt? Es wäre doch sehr interessant zu wissen, welches Material von wem in diesem Film zusammengestellt worden ist. Kann es sein, daß auch hier Geheimdienststellen aktiv geworden sind? Ist dieser Film während des Aufenthalts Nawalnys in Deutschland hergestellt worden? Liegt es im Interesse der deutschen Bürger, wenn interne russische Auseinandersetzungen dazu benutzt werden, zusätzlich von außen zu befeuern?
Es war einmal – so könnte man wie im Märchen feststellen – Konsens zwischen zivilisierten Regierungen, sich nicht in interne Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Aber mittlerweile meinen die USA und ihre abhängigen Staaten, sie müssten in der gesamten Welt für Ordnung sorgen, sie müssten allein festlegen, was Rechtsstaatlichkeit ist. Sie selbst meinen natürlich das Recht zu haben, auch mit nicht demokratischen Staaten zusammenzuarbeiten, wenn es ihrer Sache dient. Ein Blick in die Türkei zeigt, wie unterschiedlich der Maßstab angelegt wird. Wer hat eigentlich aus dem Westen gefragt, was aus den vielen verhafteten türkischen Bürgern geworden ist, denen von Erdogan unterstellt wurde, mit Fethullah Gülen zusammen gearbeitet zu haben? Was ist aus den türkischen Militärs geworden, die verhaftet wurden und bisher nicht mehr aufgetaucht sind? Hat es hier Sanktionen im gleichen Umfang wie gegenüber Rußland gegeben? Und was ist mit dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi, der kaltblütig ermordet wurde? Hat es hier ebenfalls die gleichen Sanktionen wie gegenüber Rußland gegeben?
So könnte die Liste der unterschiedlichen Verhaltensweisen der westlichen Staaten endlos fortgesetzt werden. Dabei wird jedoch erkennbar, daß „Rechtsstaatlichkeit“ offensichtlich nicht gleich „Rechtstaatlichkeit“ ist, sondern wohl mehr davon abhängt, wer festlegt, was er selbst unter sogenannter Rechtsstaatlichkeit versteht.
Das Einschleusen von Lenin durch die damalige deutsche Reichsregierung hat – historisch betrachtet – zwar eine Revolution in Rußland ausgelöst. Sie hat aber das Land dauerhaft keinesfalls dazu bewegen können, sich selbst aufzulösen und seine eigenen Prinzipien zu verraten.
Es scheint mir doch angebracht zu sein, einmal darüber nachzudenken, ob der Westen das Recht hat, sein eigenes sogenanntes Wertesystem allen anderen Staaten aufzudrängen und dies ggf. auch mit Gewalt, Sanktionen sind Gewalt und letztlich auch eine Form des Krieges, durchzusetzen.
Vielleicht kommen die Bürger in Deutschland mehr zu der Überzeugung, daß es sinnvoller ist, mit seinen Nachbarn ein gutes Verhältnis zu pflegen, als mit einem „Freund“, zwischen dem ein großes Meer liegt und der im Bedarfsfall doch meint, erst einmal seine eigenen Interessen vertreten zu müssen.